Montag, 30. Juni 2014
von Glück und Missgunst
Montagmorgen, es ist kalt. Aus den Gullideckeln am Rande der vielbefahrenen Straße steigt kontinuierlich Dampf empor. Aufgewirbelt von Abgasen und dem Zugwind vorbeirauschender Busse tanzen die Wassermolekyle dicht gedrängt durch die Luft, ehe sie sich, beschwert von Schmutzpartikeln, auf dem feuchten Asphalt niederlassen.
Eine kleine Pfütze sammelt sich in einer Mulde auf dem Gehweg, daneben liegen die Reste eines Fastfood-Menüs verstreut. Marty steuert direkt darauf zu. Eifrig schaut er nach, was sich noch in der Pappschachtel verbergen mag. Es duftet lecker, für seinen Geschmack zumindest.
Doch ehe er in igrend eine Art von Genuss kommt schreckt ihn ein lautes Platschen auf. Jemand scheint die Pfütze dafür zu benutzen, einen Kaugummi von seiner Schuhsohle zu waschen.
Immer wieder taucht das Gummi ins Wasser ein, um dann über den rauen Boden gescheuert zu werden. Die Fasern bleiben hier und da haften, ziehen sich in die Länge und werden wieder zusammengepresst. Kein besonders apetitlicher Anblick. Wasser spritzt umher und Marty weicht zurück, um nicht nass zu werden. Andere Passanten ziehen entschlossen an ihm vorbei, niemand scheint ihn überhaupt wahrzunehmen.
Er versucht dem Treiben fürs Erste zu entfliehen und folgt der Hauswand aus unverputztem Ziegelstein, über einige kleine Treppen vor Eingangstüren hinweg bis zu einem hohen Zaun, als Abgrenzung einer weitreichenden, lauten Baustelle.
Plakate, Poster, Steckbriefe; Marty fühlt sich hier etwas sicherer und versucht sich zwischen Werbung für düstere Rockmusik und Einladungen zu feuchtfröhlichen Party-Nächten zu verstecken.
Für eine Weile vergisst er den Tumult der Stadt um ihn herum. Die eilenden Menschenmassen, die hupenden Autos, das triste Wetter, bellende Hunde und die hämmernden Geräusche der Baustelle. Die Luft scheint förmlich zu vibrieren, während die Sonne irgendwo hinter der geschlossenen Wolkendecke vorbeizieht.
Ein kleines Kind nähert sich zusammen mit seiner Mutter. Es trägt ein rosa Stirnband um die langen blonden Haare, am Hinterkopf verziert mit einer prachtvollen echten Pfauenfeder, wie eine Squaw.
Die kleine stoppt abrupt vor Marty und hält ihre Begleitung ebenfalls mit aller Kraft vom Weitergehen ab.
„Mami, Mami sieh nur!“
Sie deutet auf die Wand.
„Das Musical von dem ich dir erzählt hab! Ich will das sehn!“
Marty sah die Faszination in diesen leuchtenden Kinderaugen. Ihr Finger, mit dem sie hindeutete schien ihn fast zu berühren, und so machte er vorsichtshalber ein paar Schritte zur Seite, weg von dem betreffenden Plakat.
„Jetzt komm, wir müssen uns beeilen! Der Papa wartet sicher schon auf uns“, entgegnet die Mutter, und zerrt am Arm des Kindes. Marty sieht noch wie es mit der freien Hand nach dem Zaun greift um sich festzuhalten, jedoch nur das angeklebte Papier zu fassen bekommt und dieses teilweise mit sich reißt. Fetzen fallen zu Boden, während das Mädchen dramatisch um Aufmerksamkeit schreit.
Aus Angst vor einer unmittelbaren Rückkehr beschließt er sich abermals der Szenerie zu entziehen und sucht Schutz am pelzigen langen Mantel einer älteren Dame, die einige Meter weiter grade dabei ist, gemächlich in ein Taxi einzusteigen. Sie wirkt nicht sehr begeistert von Martys plötzlicher Anwesenheit, ihr schlichtes Abwinken hält ihn aber auch nicht davon ab kurz entschlossen mitzufahren.
Es ist eine lange Strecke. Durch den Feierabend-Verkehr hinaus aus der City. Nach einer Weile des Schweigens beginnt die Frau damit, von ihrer Familie zu erzählen. Das Taxi riecht nach Zigaretten, die Ledersitze sind abgenutzt und stellenweise aufgerissen, eine leere Getränkedose steckt hinter dem Beifahrersitz fest. Marty versucht daraus noch ein paar Tropfen Limonade zu gewinnen. Mit Eintreffen der Dunkelheit hat der Wagen sein Ziel erreicht.
Das Kleingeld wird noch gezählt und völlig unvermittelt beginnt jemand an die Scheibe zu klopfen.
Ein junger Mann, vermutlich ein Enkel der erzählfreudigen Dame. Er öffnet ihr höflich die Tür, aber Marty ist der Erste, der das Auto verlässt. Voller Enthusiasmus vernimmt er eine idyllische Stille, die ihn umgibt, genießt sofort die frische Landluft und verspürt ein Gefühl der Erleichterung. Hier lässt es sich viel besser Leben, hier mag er bleiben. Weit und breit nichts bedrohliches, keine Hektik, kein Lärm, kein Verkehr und besseres Wetter. Rund herum nur Freiheit.
Marty lässt sich am Rande des Grundstücks auf einer Schubkarre nieder. Er wischt sich den Stress dieses ereignisreichen Tages aus dem Gesicht und begibt sich auf eine letzte Erkundungstour rund um das Anwesen. Über eine große Weide voller bereits schlafender Pferde und Ziegen hinweg, bis zum Ufer eines kleinen Flusses und zurück. Nie zuvor in seinem Leben hat er einen solch wundervollen Sternenhimmel gesehen, wie er an diesem Abend über ihm funkelt.
Das Einzige, was seine Freude noch etwas zu bremsen vermag sind die stetig sinkenden Temperaturen.
Im Innern des Hauses der alten Dame und ihres Enkels brennt derweil noch Licht. Er macht sich auf den Weg zur Tür der Veranda, in der Hoffnung hier einen Zugang zu finden. Tatsächlich ist sie nicht ganz geschlossen, und so ist es ein Leichtes für Marty, hinein ins Warme zu huschen. Ihn erwartet ein riesiges Wohnzimmer, rustikal eingerichtet, aber gemütlich, mit vielen kleinen Erinnerungsstücken wie Bilder einer wahrhaft großen Familie, Pokale von lokalen Reitveranstaltungen und jede Menge Pflanzen. Um die Ecke am Ende des Zimmers findet er eine Treppe hinauf zur ersten Etage. Aus der zur anderen Seite hin angrenzenden Küche schallen zwei Stimmen und ein krächzendes Radio. Folglich begibt er sich weiter über die Stufen nach oben, wo eine verschlossene Zimmertür prompt seine Aufmerksamkeit erregt. Hier ist es weitestgehend dunkel, aber durch das großzügige alte Schlüsselloch scheint helles Licht. Er wagt sich direkt heran und schaut hindurch. Der Blick ist frei auf ein hell erleuchtetes Schlafzimmer, mit einem großen Bett und einem Haufen Kleidung davor. Ein ausgesprochen hübsches junges Mädchen steht vor einem Kleiderschrank und will sich offenbar grade umziehen. Ehe Marty darüber nachdenken kann was er da eigentlich tut, ertönt von unten die Stimme der Großmutter.
„Lilly Schätzchen!? Essen ist fertig!“
Im nächsten Moment dreht Lilly sich um und läuft auf die Tür zu. Die Klinke knallt herunter und Marty wird mit der sich rasch öffnenden Tür quasi zurückgeworfen. Bevor man ihn sehen könnte geht jedoch das Licht im Zimmer aus, sodass die Dunkelheit ihm Deckung verschafft, während das Mädchen hinunter in die Küche eilt.
Zögerlich erholt er sich. Seine Neugierde bestärkt ihn abermals und er begibt sich in das nun geöffnete Schlafgemach. Auf einem Nachttisch entdeckt er einen Teller mit Trauben. Was für eine Gelegenheit! Ohne zu zögern stürzt er sich auf die saftigen Früchte und lässt sie sich schmecken.
Wie im Siebten Himmel fühlt er sich, und bemerkt nicht, wie im Flur das Licht an geht.
Lilly kommt zurück. Leise huschen ihre in dicke Socken gepackten Füße über das Parkett, und so ertappt sie Marty, noch bevor er sie wahrnehmen kann. Sie überlegt kurz, greift dann zu einem dicken Buch aus dem Regal und klatscht es mit voller Wucht auf den Teller, dessen Porzellan nur mit Mühe dem Druck standhält. Im Gegensatz zu all den Trauben, deren Saft durch die knackige Haut quillt und in alle Richtungen spritzt.
„Ihgitt!!“, ruft Sie empört, und wischt sich Traubensaft vom Oberschenkel.
„Die brauch ich jetzt wohl doch nicht mehr mit runter nehmen.“
Leichtfüßig wie sie kam dreht sie sich daraufhin um und geht wieder. Das Buch lässt sie liegen. Es trägt den Titel: Von Glück und Missgunst.

... comment